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Die Neutralen und die europäische Integration

Michael Gehler/Rolf Steininger (Hrsg.), Die Neutralen und die europäische Integration 1945-1995/The Neutrals and the Europaen Integration
1945-1995, (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen 3) Böhlau, Wien-Köln-Weimar 2000 (800 S.)
ISBN 3-205-99090-0

 


Inhalt

In diesem Sammelband geht es vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die historische Rolle der Neutralen und ihr Verhältnis zur europäischen Integration.
Experten aus den Vereinigten Staaten, Rußland, Finnland, Österreich, Schweden, der Schweiz und Irland behandeln auf der Basis ihrer neuesten Forschungen die mit dem jeweiligen Land verbundene Neutralitätsproblematik im Überblick. Daneben wird die Integrationspolitik der Neutralen im Kontext der internationalen Machtkonstellation, d.h. aus dem Blickwinkel der Supermächte und mittleren Mächte (USA, Sowjetunion und Großbritannien) präsentiert, aber auch an ein bisher wenig beachtetes Thema erinnert: Friedenserhaltende Kooperation unter Kleinstaaten und Neutralen.

Vorbemerkung 9

I.Die Integrationspolitik der Neutralen im Kontext der internationalen Machtinteressen
Michael Ruddy
European Integration, the Neutrals, and U.S. Security Interests:
From the Marshall Plan to the Rome Treaties
13
Vladislav Zubok
The Soviet Attitude towards the European Neutrals during the Cold War
29
Wolfram Kaiser
Neutral, nicht neutral, auch egal: Großbritannien, die Neutralen und die europäische Integration 1945-1972
44
Erwin A. Schmidl
Neutral, klein, unabhängig: die idealen "Blauhelme"?
61
Wilfried Loth
Neutralität im Kalten Krieg
80

II. Irland
Brian Girvin
National Interest, Irish Neutrality and the Limits of Ideology
80
Ulfert Zöllner
Irland und die Anfänge der europäischen Integration
113
Maurice FitzGerald
Irish Neutrality and European Integration 1960-1972
144
Rona Fitzgerald
Ireland and European Integration 1985-1995
173
Kommentar von Jürgen Elvert
Zu den Beiträgen Irland und die europäischen Neutralen
192

III. Finnland
Martti Häikiö
Finland's Neutrality 1944-1994
199
Tapani Paavonen
Finland's Relationship to West European Economic Integration 1947-1958
218
Pekka Visuri
Die finnische Neutralität und die europäische Integration 1960-1973
239
Pekka Visuri/Tapani Paavonen
Die finnische Integrationspolitik 1985-1995
246
Kommentar zu den finnischen Beiträgen von Paul Luif 254

IV. Schweden
Karl Molin
The Central Issues of Swedish Neutrality Policy
261
Charles Silva
An Introduction to Sweden and European Integration 1947-1957
276
Mikael af Malmborg
Sweden's long road to an agreement with the EEC 1956-1972
309
Bo Stråth
Die große und stille Kehrtwendung:
Die schwedische Integrationspolitik 1985-1994
337
Kommentar von Robert Bohn
Schweden und die europäische Integration 1945-1995

V. Schweiz
Laurent Goetschel
Die Entwicklung der Neutralität und die schweizerische Integrationspolitik
359
Martin Zbinden
Die schweizerische Integrationspolitik von der Gründung der OEEC 1948 bis zum Freihandelsabkommen 1972
389
Peter Moser
Die schweizerische Integrationspolitik 1986-1993
421
Kommentar von Heinrich Schneider
Zu den Beiträgen über die Schweizer Neutralitäts- und Integrationspolitik
436

VI. Österreich
Heinrich Schneider
Die österreichische Neutralität und die europäische Integration
465
Michael Gehler
Zwischen Supranationalität und Gaullismus
Österreich und die europäische Integration 1957-1963
497
Rolf Steininger
Österreichs "Alleingang" nach Brüssel 1963-1969
577
Maximilian Oswald
Wirtschaftliche Integration und österreichische Neutralität von 1960 bis 1972
645
Paul Luif
Österreich und die europäische Integration 1985-1995
680
Kommentar von Thomas Angerer
Für eine Geschichte der österreichischen Neutralität

VII. Resümee
Michael Gehler
Quo vadis Neutralität? Zusammenfassende Überlegungen zu ihrer Geschichte und Rolle im europäischen Staatensystem sowie im Spannungsfeld der Integration
711

VIII. Anhang
Literaturverzeichnis 757
Abkürzungsverzeichnis 773
Mitarbeiterverzeichnis 776
Chronologie 784
Personenregister 795

 

Vorbemerkung

Die europäischen Neutralen hatten - mit Ausnahme der Schweiz - ihre Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union mit Brüssel im März 1994 abgeschlossen. Nach der Ratifizierung der Verträge im Europaparlament waren die Bevölkerungen im Rahmen von Volksabstimmungen aufgerufen, ihr Urteil abzugeben und die regierungspolitischen Entscheidungen zu sanktionieren. Nach Österreich ging auch in Finnland und Schweden das Referendum über den Beitritt zur Europäischen Union positiv aus. Seit 1995 sind diese Länder EU-Mitglieder.
Im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposiums, welches von Beginn an als Forschungskonferenz konzipiert war und unter dem Ausschluß einer größeren Öffentlichkeit an der Universität Innsbruck im April 1995 stattfand, wurde vor dem aktuellen Hintergrund der Integrationsdebatte in den verschiedenen Staaten die historische Rolle der Neutralen in ihrem Verhältnis zur europäischen Integration beleuchtet. Hierbei war weniger - wie bisher von der Verbindungsgruppe der Historiker von der EG-Kommission - an eine Spezialtagung über eine gewisse Phase der Integration, sondern an eine Bestandsaufnahme wissenschaftlicher Integrationsforschung in Form von längsschnittartigen Überblicken der Entwicklung, d.h. von den Anfängen bis zur aktuellen Situation gedacht. Es geht bei diesem Band also um die Präsentation der Ergebnisse einer Forschungskonferenz, vor allem um den neuesten Stand der historischen und politikwissenschaftlichen Arbeiten über die verschiedenen neutralitäts- und integrationspolitischen Konzeptionen.
Experten aus den Vereinigten Staaten, Rußland, Finnland, Österreich, Schweden, der Schweiz und Irland behandelten auf der Basis ihrer neuesten Forschungen die mit dem jeweiligen Land verbundene Neutralitätsproblematik im Überblick, drei weitere Fachleute jeweils die Integrationspolitik des betreffenden Staates im wesentlichen für folgende Zeitabschnitte:
a)Vom European Recovery Program bis zu den Römischen Verträgen und dem Projekt der Großen Freihandelszone 1947/48-1957/58;
b)von der EFTA-Gründung bis zu den Freihandelsabkommen mit der EG 1960-1972/73 und
c) von der Lancierung des Binnenmarktkonzepts bis zu den Verträgen von Maastricht und den Abstimmungen über den EU-Beitritt in den Ländern 1985/86- 1992/94.
Neben diesen fünf Länderblocks wurde einleitend in einem weiteren Block die Integrationspolitik der Neutralen im Kontext der internationalen Machtkonstellationen, d.h. aus dem Blickwinkel der Supermächte und mittleren Mächte (USA, Sowjetunion und Großbritannien) präsentiert, aber auch an ein bisher wenig beachtetes Thema erinnert: Friedenserhaltende Kooperationen unter Kleinstaaten und Neutralen.
Von einer thematischen Einführung wurde abgesehen, dafür jedoch nach jedem Themenblock ein wissenschaftlicher Kommentar zur behandelten Thematik abgegeben, der Verbindungslinien zwischen den einzelnen Thesen der Referate herstellt, wesentliche Aspekte hervorhebt, noch bestehende Defizite und zukünftige Aufgaben der Forschung benennt, weiterführende Überlegungen zum Thema anstellt, aber auch Kritik übt und Anregungen für weitere Forschungen gibt.
Das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck mit seinem Arbeitskreis für Europäische Integration organisierte als Koordinationsstelle dieses der Grundlagenforschung dienende Symposium, welches eine notwendige Bestandsaufnahme für weitere zukünftige komparativ angelegte Forschungsansätze bieten will.

Innsbruck 1999 Die Herausgeber

Reaktionen:

Seitdem die europäischen Neutralen ihre Verhandlungen über den Beitritt zurEuropäischen Union im März 1994 abgeschlossen haben, ist dieNeutralitätsproblematik im globalen wie im europäischen Kontext vor allem einForschungsfeld für Zeitgeschichtler. Der vorliegende Sammelband über dieNeutralen und die europäische Integration versammelt Experten aus denVereinigten Staaten, Rußland, Finnland, Österreich, Schweden, der Schweiz undIrland, die jeweils die Neutralitätsproblematik des betreffenden Staates in dreiZeitabschnitten behandeln: in der Phase vom Marshallplan bis zu den RömischenVerträgen (1947/48 bis 1957/58), von der Efta-Gründung bis zu denFreihandelsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft (1960 bis 1972/73) und vomBeginn des Binnenmarktkonzepts bis zu den Verträgen von Maastricht und denAbstimmungen über den EU-Beitritt in den Ländern (1985/86 bis 1992/94). Ergänztwerden die Länderstudien durch Darstellungen der Perspektiven der damaligenSupermächte Vereinigte Staaten und Sowjetunion sowie der "mittleren Macht"Großbritannien.

Aus allen Beiträgen wird deutlich, daß der Begriff Neutralität in der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts insofern umstritten war, als viele mit ihm zunächsteine überflüssige Haltung verbanden. Darüber hinaus schuf der Kalte Krieg mitseiner immanenten Auseinandersetzung zwischen demokratischem Westen undkommunistischem Osten ein massives Glaubwürdigkeitsproblem für die Neutralen undsolche Staaten, die neutral werden wollten. Der damalige amerikanischeAußenminister John Foster Dulles bezeichnete die Haltung gar als "unmoralisch",eine Formel, die sich auch der erste EWG-Kommissionspräsident Walter Hallsteinzu eigen machte.

Erst als der Ost-West-Gegensatz ein ungefähres Gleichgewicht der Kräftehergestellt hatte, erschien die Neutralitätspolitik der Kleinstaaten legitim.Und je mehr sich der Ost-West-Gegensatz verfestigte, desto berechtigter undwünschenswerter wurde die von Neutralen übernommene Rolle des Beobachters undVermittlers in der internationalen Politik. Nirgendwo wurde dies deutlicher alsin den zahlreichen friedenserhaltenden Missionen der UN, deren Generalsekretärein diesen Phasen überwiegend Vertreter der neutralen und blockfreien Länderwaren.

Die außenhandels-, wirtschafts- und stabilitätspolitische Erfolgsgeschichte derGemeinschaft hatte eine wohlstands- und friedensstiftende Dimension, dieschließlich auch auf die Neutralen durchschlug. Mit Hilfe des europäischenIntegrationsprozesses versicherten sie sich ihrer Integrität, gewannenSicherheit und erhielten indirekt Garantien für ihren internationalen Status.Dadurch verlor die neutrale Chiffre vom "exklusiven Klub von Privilegierten"(die Gemeinschaft), der zwar die Vision von der Einigung auf seinen Lippenführte, in der Regel aber den Ausschluß Dritter festschrieb, auch im Lager derNeutralen zusehends an Plausibilität.

Im nachhinein betrachtet, erscheint es auf den ersten Blick geradezu paradox,daß die spätere EU-Zugehörigkeit von den Neutralen als mit ihrem traditionellenStatus vereinbar bezeichnet wurde, obwohl der jetzt höhere Integrationsgrad alszu Zeiten der EWG/EG neutralitätsrechtlich viel bedenklicher war. Die Motiveaber waren eindeutig: Zum einen stellten die Umwälzungen der Jahre 1989 bis 1991das politische Selbstverständnis der Neutralen in Frage. Zum anderen waren esunabhängig davon in jedem einzelnen Fall handfeste politische wie ökonomischeInteressen, die es den betroffenen Ländern zum gegebenen Zeitpunkt opportunerscheinen ließen, der Gemeinschaft beizutreten.

Lediglich Irland gab seine Neutralitätspolitik praktisch schon vorher auf,nämlich 1973, weil die enge wirtschaftliche Bindung an Großbritannien es demLand verbot, bei einer Mitgliedschaft der Briten gewissermaßen "außen vor" zubleiben. Nur über die Mitgliedschaft konnte man sich aus der politischen wiewirtschaftlichen Abhängigkeit gegenüber London befreien. Hinzu kam die ganzpragmatische Einschätzung, daß der strukturschwachen Landwirtschaft am bestenüber die Brüsseler Fleischtöpfe wieder auf die Beine geholfen werden konnte unddaß ein größerer Wirtschaftsraum generell von gesamtwirtschaftlichem Vorteilwar.

Im Falle Finnlands bewirkte eindeutig die Veränderung der politischenGroßwetterlage - konkret: der Zusammenbruch der Sowjetunion - die Aufgabe derNeutralitätspolitik. Zuvor trug umgekehrt die Neutralitätspolitik vor allem derkonkreten Bedrohung durch die Sowjetunion Rechnung. Darüber hinaus spürte mandie zunehmende Dominanz der EU gegenüber dem EWR (Europäischer Wirtschaftsraum).Konkret bedeutete dies, daß das exportabhängige Land von der immer wichtigerwerdenden Normenbildung der EU für den europäischen Markt insgesamt praktischausgeschlossen war und vermehrt Markthindernisse in Kauf nehmen mußte.

Ökonomische Motive standen auch im Vordergrund im Falle Schwedens, dessenNeutralitätspolitik sich traditionell auf die westlich orientierten europäischenInstitutionen beschränkte; ansonsten war das Land Mitglied der OECD und der Eftasowie im Europarat. Die Integration in die EU wurde seit Mitte der achtziger,spätestens seit 1990/91, nicht zuletzt als Schutz gegen die globalisiertenMärkte betrachtet. Schließlich versprach das Ende des Kalten Krieges eineweitere Öffnung der Gemeinschaft nach Osten und damit aus Sicht Stockholms neueProduktions- und Absatzmärkte, die es mit Hilfe einer EU-Mitgliedschaft zuerschließen galt.

Strittiger war hingegen die österreichische Neutralitätspolitik. Zwar gab esauch hier das Motiv des Marktzugangs, daneben aber existierten eine Reihe vonAspekten, die mit dem Beitritt verbunden waren. Grundsätzlich tat sichÖsterreich auch nach 1989 schwer mit der Aufgabe des seit 1955 sakrosanktenaußenpolitischen Status. Eine Mitgliedschaft in einem Militärbündnis wie Natooder WEU war somit - darin ähnlich der strikten militärischen Neutralität derSchweiz - unvereinbar mit dem offiziellen Festhalten an der Neutralität.Allerdings ist fraglich, ob diese nach dem EU-Beitritt auf Dauer beibehaltenwerden kann. Entscheidend war letztlich die strukturelle Krise, in der das Landsich seit den achtziger Jahren befand. Diese sollte durch die Teilnahme amBinnenmarkt und die damit verstärkte Konkurrenz für die österreichischeWirtschaft überwunden werden.

In der Summe zeigt dieses Handbuch mit hohem Informationswert, daß die Politikder Neutralen erstaunliche Parallelen aufweist. In der Phase desOst-West-Gegensatzes waren alle nicht nur kulturell, sondern auch politisch undökonomisch westorientiert. Ansonsten wirkte Neutralität vor allem als Vehikelfür "die Nutzbarmachung eines nationsbildenden und staatsstabilisierendenMythos". Erst mit dem neuerlich europäischen Integrationsschub (Vollendung desBinnenmarktes) und der Verstärkung der Globalisierung büßte die Neutralitätweitgehend ihre Bedeutung ein, nachdem die ökonomischen Nachteile für vieleoffensichtlich wurden.
STEFAN FRÖHLICH, FAZ, 10.2.2001