Wissenschaftler: Für Westmächte war Mauerbau keine Überraschung
Für die Westmächte war der Mauerbau nach Erkenntnis des Zeithistorikers Rolf Steininger keine Überraschung. Die Absperrmaßnahmen wurden erwartet, wie der Professor vom Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck am Mittwoch der Nachrichtenagentur ddp sagte. Dies sei insbesondere durch erst später freigegebene Dokumente belegt. Zwar komme niemals das Wort «Mauer» vor, wohl aber sei von Absperrung der Sektorengrenze die Rede gewesen.
Deshalb habe sich auch niemand im Westen über den Mauerbau aufgeregt. Im Gegenteil: Die Sperrmaßnahmen seien bei den Westmächten eher mit Erleichterung aufgenommen worden, weil dadurch die Lösung der so genannten Berlinkrise leichter wurde, sagte Steininger. Der Bau der Mauer sei Höhepunkt der Berlinkrise gewesen, die der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow 1958 mit einem Ultimatum an die Westmächte ausgelöst hatte. Mit der Mauer hatte die Sowjetunion Steininger zufolge die Teilung Deutschlands im wahrsten Sinne des Wortes zementiert. Die Teilung sei damit zu «einem stabilen Element in einer instabilen Situation» geworden. Der Mauerbau habe westliche Interessen nicht wirklich beeinträchtigt.
Für den damaligen US-Außenminister Dean Rusk waren die Sperrmaßnahmen zwar eine ernste Angelegenheit, aber dadurch sei eine Lösung des Berlinproblems «eher leichter» geworden, zitiert Steininger. Auch für die Briten sei der Mauerbau nicht überraschend gewesen. Der damalige Botschafter Christopher Steel habe sich darüber gewundert, dass die DDR nicht schon früher die Sektorengrenzen abgeriegelt hatte. Steel verwies in einem Bericht nach London zudem darauf, dass er die Botschaftergruppe in Paris eine Woche zuvor gewarnt hatte, dass mit dieser oder einer ähnlichen Absperrmaßnahme zu rechnen sei.
Für die DDR sei die Mauer jedoch eine katastrophale Niederlage des Systems und des Kommunismus insgesamt gewesen. Schließlich seien diesem Staat die Menschen massenweise weggelaufen. Ohne die Abriegelung wäre die DDR regelrecht ausgeblutet. Für den Westen sei die Mauer, die nun wahrlich kein Aushängeschild des Sozialismus war, zu einem Propaganda-Instrument geworden. Dass die Mauer propagandistisch genutzt werden müsse, forderte der damalige US-Präsident John F. Kennedy bereits zwei Tage nach deren Errichtung.
In der Zeit der Berlinkrise wurden nach den Worten des Wissenschaftlers auch die Grundlagen für die dann vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in den 70er Jahren betriebene Ostpolitik gelegt, wozu die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sowie die de facto-Anerkennung der DDR gehörten. «Diese Ostpolitik wollten die Alliierten von Anfang an.»
In seinem beim Olzog Verlag erschienenen Buch «Der Mauerbau: Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1963» untersucht Steininger auf der Grundlage bislang nicht zugänglicher amerikanischer, britischer und deutscher Akten die zentrale Phase des Ost-West-Konfliktes.
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