Interview zur Veranstaltung in der Konrad-Adenauer-Stiftung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.2001

Was der Westen wußte

Heute in der Konrad-Adenauer-Stiftung: Neues zum Mauerbau

"Dieses Buch sei wärmstens zur Lektüre empfohlen", schreibt das "Neue Deutschland" über Rolf Steiningers kürzlich im Olzog-Verlag erschienenes Buch "Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958- 1963". Für seine Veröffentlichung konnte der an der Universität Innsbruck lehrende Historiker bislang nicht zugängliche amerikanische, britische und deutsche Akten auswerten. Er ist heute abend um 18 Uhr Gast einer öffentlichen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Tiergartenstraße 35, über "Historisches Gedächtnis, Neues zum Mauerbau".


Herr Steininger, Sie konnten Akten auswerten, die bislang top secret waren. Was hat der Westen vom Mauerbau gewußt?

Der Westen hat sehr viel gewußt. Expressis verbis kommt das Wort Mauer in den Akten zwar nicht vor, doch der Hinweis auf die Abriegelung der Sektorengrenze steht schon im November 1957 in einem Bericht des CIA. Im März 1961 schreibt der amerikanische Botschafter in Moskau eindeutig, daß damit zu rechnen sei, wenn das Berlin-Problem nicht verschärft werden solle. Das mindeste sei die Abriegelung der Sektorengrenze, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Im Juli fragt der US-Botschafter in Bonn Washington: Was machen wir, wenn es dann zu einem zweiten 17. Juni in der DDR kommt? Davor hatte man am meisten Angst. Die Antwort des State Department ist eindeutig. Man rechnet mit drastischen Beschränkungen des Ost-West-Verkehrs an der Sektorengrenze. William Fulbright, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des amerikanischen Senats, sagt am 30. Juli öffentlich, er verstehe gar nicht, warum die DDR die Grenzen noch gar nicht dichtgemacht habe. Sie habe doch ein Recht dazu.

Die Alliierten waren gewarnt. Warum haben sie nicht eingegriffen?

Sie waren froh, daß auf diese Weise das Problem ohne Gesichtsverlust auf westlicher Seite gelöst wurde. Die erste Reaktion des amerikanischen Außenministers, das belegen die Akten, war große Erleichterung. Das werde die Lösung der Berlin-Frage erleichtern, hieß es.

Die westalliierte Empörung war geheuchelt?

Wer hat sich denn empört? Es gab Wischiwaschi-Protesterklärungen, daß der Viermächtestatus verletzt worden sei. Propagandistisch war es ein gefundenes Fressen, ein wunderbarer Anlaß, um zu zeigen, wie das sozialistische System versagt hat. Aber niemand hat daran gedacht, die Sperrmaßnahmen niederzureißen. Für die Alliierten war es die beste Lösung überhaupt. Es gab vorher ein Szenario auf westlicher Seite, das Schlupfloch müsse offenbleiben. Es seien noch 2 bis 3 Millionen potentielle Flüchtlinge in der DDR. Wenn die auch weg seien, werde die Sowjetunion schon bereit sein, mit uns über die DDR zu reden, so der amerikanische Botschafter in Bonn. Das andere Szenario, heute von der PDS hochgehalten, daß die Bundeswehr mit klingendem Spiel durch das Brandenburger Tor marschieren wolle, war und ist genauso unsinnig. Die Mauer war kein antifaschistischer Schutzwall, sie war nötig, um Millionen eigener Leute am Gehen zu hindern. Der Westen akzeptierte die Mauer, weil sie nicht die lebenswichtigen Interessen der Alliierten berührte. Das heißt, die Interessen reduzierten sich auf West-Berlin. Die berühmte Rede von Kennedy im Juli, seine drei Essentials, Recht auf Anwesenheit der Westmächte, Recht auf Zugang und Sicherung der Freiheit, bezogen sich auf West-Berlin. Aufgeregt war man am 13. August in Berlin und Bonn, aber nicht in Washington oder in London.

Man wundert sich schon, daß Kennedy einige Zeit später in Berlin zu erkennen gab, er sei ein Berliner?

Ich meine, er hätte lieber sagen sollen, ich bin ein West-Berliner, wenn schon, denn schon. Romanus civis sum. Ich bin ein freier Bürger. Aber das bezog sich auf West-Berlin.

War Adenauer nun das Weichei, als das er gerne dargestellt wird? Er kommt nicht nach Berlin, geht in den Wahlkampf . . .

Das glaube ich nicht. Was hätte er machen sollen? Die Gefahr war doch, und das war auch die Angst in Washington, daß die Situation außer Kontrolle gerät - die Angst vor einem zweiten 17. Juni, wieder russische Panzer. Die USA konnten mit Sicherheit nicht noch einmal so reagieren wie 1953, nämlich gar nicht. Das wäre der Beweis gewesen, daß sich die Nato-Mitgliedschaft gar nicht lohnt. Da war die Angst, wenn die USA diesmal nicht massiv reagierten, anders als 1953, daß sich dann die deutsche Politik grundlegend ändern, neu orientieren würde, Neutralismus, Annäherung an Moskau.

Wer hatte als erster die Idee, West-Berlin abzuriegeln?

Ulbricht hat schon 1954 ventiliert, wie das Schlupfloch Berlin am besten zu stopfen sei. Doch ein Nachweis darüber ist schwer zu finden. Unklar ist bis heute, wer letztlich für den Mauerbau verantwortlich zeichnet. Da streiten sich die Urheber. Chruschtschow schreibt in seinen Memoiren, er habe natürlich das Ja-Wort gegeben. Bei Ulbricht sieht es ein wenig anders aus. Grundsätzlich kann man sagen, Ulbricht hat gedrängt, und ohne Plazet aus Moskau war nix zu machen.

Die gelernten DDR-Bürger, die mit der Republik aufgewachsen sind und sich mit ihr, wenn auch nicht mehr bruchlos, identifizieren, lieben Ihre Thesen. Sie entlasten. Eigentlich sei der Westen an der Mauer im besonderen und an der DDR mitsamt ihren Schwierigkeiten im allgemeinen schuld?

Meine Kernthese ist, daß die Amerikaner und die westliche Allianz eine eigene Politik betrieben und die Deutschen ziemlich im Regen stehengelassen haben. Das gilt für den Britenpremier Macmillan, der die DDR schon früh anerkennen wollte, das gilt aber nicht für Dulles und Eisenhower, aber für den gesamten Kennedy-Clan. Der verachtete die Deutschen im Grunde. Das gilt wiederum nicht für de Gaulle. Die Westmächte glaubten nicht an eine Wiedervereinigung, waren aber auch nicht daran interessiert. Die Briten lehnten sie sogar ab, trotz anderslautender Verträge. Die Deutschen waren also eigentlich auf sich allein gestellt. Insgesamt sind Chruschtschow und Kennedy für "ihre" Deutschen so weit gegangen, wie sie eben konnten. Die Mauer hat die Teilung zementiert, der DDR die Existenz gesichert, und ab dem Moment wurden beide deutschen Staaten zu Garanten der Sicherheit und des Friedens in Europa. Das Nachsehen hatten vor allem die Ostdeutschen. Doch damit schien die deutsche Frage definitiv gelöst, und niemand hat je daran geglaubt, daß sie 1989 noch einmal auf die Tagesordnung kommt.

Die Fragen stellte Benedict Maria Mülder.