Berlin-Krise und Dissens im westlichen Bündnis


Gerhard Wettig

Rolf Steininger: Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1963, Olzog Verlag, München 2001, 411 Seiten, 36 DM.

Die Ost-West-Konfrontation wegen Berlin Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre war die längste und schwierigste Krisenperiode des Kalten Krieges, deren Höhepunkt, der Mauerbau, die Szene in Deutschland und Europa von Grund auf veränderte. Ein entscheidendes Problem stellten die internen Differenzen auf beiden Seiten, vor allem aber unter den westlichen Verbündeten, dar. Der Handlungsspielraum der Führungsmacht USA wurde durch das politische Erfordernis, die Einheit der Allianz gegenüber der UdSSR zu wahren, empfindlich eingeschränkt. Der britische Premierminister Macmillan, gleichermaßen durch Beschwichtigungstendenzen gegenüber der Sowjetunion und antideutsche Ressentiments motiviert, drang ständig auf Kompromisse, die auf Kosten der Bundesrepublik gingen und einer politischen Kapitulation des Westens nahekamen. Staatspräsident de Gaulle dagegen war unbeirrt der Ansicht, dass man unter dem Druck ultimativer Forderungen überhaupt nicht verhandeln dürfe. Wenn für die Gegenseite von vornherein feststehe, was herauszukommen habe, sei kein vernünftiges Ergebnis zu erwarten, und man tue gut daran, das Bemühen allein auf Abwehr auszurichten. Bundeskanzler Adenauer sah seine politische Stütze zunächst vor allem in Washington, wo in der Eisenhower-Zeit der Wille zu entschlossener Verteidigung der Berlin-Rechte vorherrschte. Wäre nicht die Rücksicht auf den Bündniszusammenhalt gewesen, hätte sich Chruschtschow einer so harten militärischen Abschreckung gegenübergesehen, dass er nach aller Wahrscheinlichkeit die Herausforderung sehr rasch beendet hätte.

Die innerwestliche Konstellation änderte sich, als Kennedy amerikanischer Präsident wurde. Anders als sein Vorgänger suchte er ein Einvernehmen mit der UdSSR auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung - oder zumindest Respektierung - des Status quo, wozu freilich der sowjetische Parteichef nicht bereit war. Der neue Mann im Weißen Haus näherte sich der britischen Vorstellung, man müsse Kompromisse suchen und bisherige Grundsatzstandpunkte aufgeben. Das ging zunächst vor allem auf westdeutsche Kosten, gefährdete aber längerfristig die westliche Position insgesamt. In dieser Lage wurde de Gaulle für Adenauer zum rettenden Engel: Zusammen mit Frankreich, das auf die USA ungleich weniger angewiesen war als die Bundesrepublik, konnte der Bundeskanzler den gefährlichen Beschwichtigungstendenzen die Stirn bieten.

Nach wie vor ruhte freilich die Last der Abschreckung auf den Amerikanern. Kennedy erwarb sich große Verdienste, indem er - nicht zuletzt mittels militärischer Maßnahmen - klar die Entschlossenheit bekundete, die Freiheit West-Berlins um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Da lag der Knackpunkt: Es ging ihm nicht mehr um Deutschland oder Berlin insgesamt, sondern nur noch um den Westteil der Stadt. Chruschtschow erkannte die Chance und erlaubte Ulbricht den Bau der Mauer. Kennedy nahm das nicht nur gleichmütig hin, sondern war sogar froh darüber, glaubte er doch, dass damit die Krise ausgestanden sei. Er sah nunmehr den Zeitpunkt zur umfassenden Verständigung mit dem Kreml gekommen und machte daher sehr weitreichende Angebote, die nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die NATO gravierende Folgen gehabt hätten, wenn es auf dieser Basis zu Vereinbarungen gekommen wäre. Während Macmillan diese Initiativen voll unterstützte, verhinderte sowohl das Einvernehmen zwischen Adenauer und de Gaulle als auch - nicht zuletzt - die maximalistische, sich nicht mit Abstrichen von den gestellten Forderungen zufrieden gebende Haltung Chruschtschows, dass daraus etwas wurde. Dem Zusammenwirken von beidem ist es zu verdanken, dass das Sondergebiet West-Berlin als Stachel im Fleisch der deutschen Zweistaatlichkeit erhalten blieb und dass schließlich die Vereinigung Deutschlands von Berlin ihren Ausgang nehmen konnte.

Das vorliegende Buch ist nicht nur - nach Einzelstudien über die amerikanische und britische Haltung - die erste Darstellung der Interaktion im westlichen Bündnis während der zweiten Berlin-Krise aufgrund umfassender Auswertung westlicher Archivdokumente. Rolf Steininger liefert auch eine sorgfältig recherchierte, überzeugend argumentierende, ungewöhnlich klar und lesbar geschriebene Darstellung dieser für die Entwicklung in Deutschland wie für den Verlauf des Kalten Krieges insgesamt äußerst wichtigen Vorgänge. Einwände ergeben sich nur, wo der Autor - an wenigen Stellen - über die Erkenntnisse hinausstrebt, die sich aus den vom ihm benutzten westlichen Quellen gewinnen lassen. So meint er insbesondere in Analogie zu den Erwartungen der damaligen amerikanischen Akteure, dass die Krise mit dem Mauerbau für die sowjetische Seite abgeschlossen gewesen. Er verkennt damit sowohl Chruschtschows Absicht als auch den Inhalt des Beschlusses, den die Parteichefs der Warschauer-Pakt-Staaten Anfang August 1961 fassten. Auch überrascht, dass der Verfasser - zudem ohne Nachweis der Herkunft - neben andere Überlieferungen eine ihnen widersprechende, offensichtlich unrichtige Darstellung des ungenannt bleibenden tschechischen Überläufers Jan _ejna stellt über die zum Beschluss des Mauerbaus führenden Schritte stellt. Abgesehen von diesen Kleinigkeiten, hat Rolf Steininger ein ganz hervorragendes Buch geschrieben.